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Fußball-Texte

Der Ball-Besessene
Der Freiburg-Trainer Christian Streich
erschienen bei Spiegel Online, am 28. Nov 2012

Christian Streich ist ein ungewöhnlicher Trainer. Und das hat nichts damit zu tun, dass er mit dem Fahrrad zum Training fährt. Mit ihm ist der SC Freiburg von einem Abstiegs- auf einen Europapokalplatz gerückt. Dabei hatte man einst auf ihn als Chef verzichtet - aus Furcht vor negativen Schlagzeilen.

Sonntag, bald kommt der "Tatort". Auf dem Stadionparkplatz ist kaum noch ein Auto zu sehen, der Mannschaftsbus der Stuttgarter ist nach der 0:3-Klatsche in Freiburg längst auf dem Weg ins Schwäbische. Doch mitten in Dunkelheit und Nieselregen leuchtet im Stadionbau ein helles Rechteck: Im Trainerzimmer herrscht noch reges Treiben. Zwei Stunden nach Abpfiff. Der Mann, der da so eindringlich mit den Armen rudert und offenbar eine Spielsituation nachstellt, ist Christian Streich. Der SC-Trainer hat Besseres zu tun, als Feierabend zu machen. Schließlich sitzen hier noch ein paar Fußballfachleute.

Der 47-Jährige ist ein Ball-Besessener, einer, der sich 90 Minuten lang völlig vergessen kann. Es braucht dann nicht viel, um ihn auf die Palme zu bringen: Ein Schiedsrichterpfiff, dumme Parolen von den Rängen, ein Spieler, der irgendwelche T-Shirt-Liebeserklärungen in die Kamera hält, anstatt sich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Dann kann Streich zur Furie werden. Wer das auf die hohe Nervenbelastung in der Bundesliga schiebt, war noch nie im Möslestadion, in dem die SC-Nachwuchsmannschaften ihre Heimspiele austragen: Der Mann war schon als A-Jugendtrainer so.

Allerdings findet man in der Freiburger "Fußballschule" niemanden, der sich negativ über Streich äußert. Man hört dort viele Anekdoten, die einen warmherzigen, herzlichen und sensiblen Menschen porträtieren, der über eine im Fußball-Business rare Gabe verfügt: Die, die sich zurücknehmen, um sich auch einmal von außen zu sehen.

"Ich bin meist in der Position des Erzählenden"

Am Montag wurde er gefragt, was sich an seinem Leben geändert habe, seit aus "dem Christian" der Bundesliga-Trainer geworden ist. Seine Antwort: der Medienhype. Und: Er erfahre kaum noch etwas von anderen Menschen. Egal, ob er sich zum Kochen verabrede oder zum Fußball-Gucken, mögen die Berufe der Freunde noch so spannend sein - meist stellt man ihm eine Frage, bevor er selbst eine stellen kann. "Ich bin meist in der Position des Erzählenden. Früher habe ich mehr über andere erfahren. Schade." Man kommt spontan nicht auf viele Trainerkollegen, die so antworten würden.

Streich ist ein Trainer, der ernsthaft darunter leidet, dass er Spieler, die er mag, auf die Tribüne setzen muss, der Rassisten verachtet ("Was sind das für Menschen"?) und Zyniker sowieso. Also alle, die sich über andere erheben. Streich, der Metzgerssohn aus Weil am Rhein, verfügt über viel Empathie. Und als studierter Germanist weiß er sogar, was das ist.

Als es im Sommer vergangenen Jahres darum ging, wer die Nachfolge von Robin Dutt antreten sollte, war Streich in der engeren Auswahl. Cheftrainer wurde er aber nicht. Nicht weil man ihm das fachlich nicht zugetraut hätte, sondern weil man Angst hatte, er könne zu cholerisch sein und damit negative Schlagzeilen produzieren.

Freiburg ist ein Idyll, das sich gerne auch mal ohne Grund bedroht fühlt

Diese Fehleinschätzung ist in Freiburg nicht ohne innere Logik: Nachdem ein Journalist beim vorletzten Heimspiel mitgehört hatte, wie ein leitender Angestellter im Kabinengang über den Schiedsrichter schimpfte, standen die Journalisten beim Stuttgart-Spiel fünf Minuten lang vor verschlossenen Türen zur Interviewzone. Freiburg ist ein Idyll, das sich gerne auch mal ohne Grund bedroht fühlt.

Erst als Marcus Sorg, der glücklose Ex-Coach gehen musste, schlug Streichs Stunde. Mit ihm kam der Erfolg: In der Rückrundentabelle belegte der SC Rang sieben, vor dem Bayern-Spiel (20 Uhr, Liveticker SPIEGEL ONLINE) rangiert man auf Platz neun.

Und selbst Streich, der bei Fragen nach einer Korrektur des Saisonziels dreinblickt, als entsteige der Fragende gerade einem Ufo, gibt zu: "Wir haben die Punkte nicht gestohlen. Es läuft ganz gut." Frankfurts Sebastian Jung ("Freiburg ist die erste Mannschaft, die verstanden hat, wie wir spielen") und Hannovers Mirko Slomka ("super taktische Einstellung") sind nicht die einzigen, die glauben, dass das etwas mit dem Trainer zu tun haben könnte.

"Einer von uns", sagen sie an der Dreisam und meinen dabei nicht primär Streichs schon oft beschriebenen Dialekt. Offensiver Fußball, junge, selbst ausgebildete Spieler - in Freiburg gibt es tatsächlich noch Zuschauer, die lieber verlieren, als auf die seit Volker Finkes Zeiten gewachsene Identität zu verzichten.

Streich ist einer, der zur Stadt Freiburg passt. Man muss schon von sehr weit zugereist sein, um aus der Tatsache, dass Streich mit dem Fahrrad zum Training fährt, die Headline "Deutschlands verrücktester Trainer" zu schmieden. In Freiburg ist Fahrradfahren in etwa so exotisch wie eine Ameise im Ameisenhaufen.

Kein Wunder, dass Streich nichts dagegen hat, dass die Streich-Geschichten seit einigen Monaten wieder realistischer ausfallen. Mancher Journalist will sogar schon beobachtet haben, der Mann sei ruhiger, gelassener geworden. "Herr Streich, sind Sie entspannter als früher?" "Weiß nicht." Ein ziemlich langes Zögern. "Mir ist die Anspannung hoch genug."

 

Im Schwarm
Ultras verstehen sich als Avantgarde, schotten sich ab wie eine Geheimloge, eine Minderheit neigt zur Gewalt.
erschienen im Spiegel, 37 / 2012

Die Fans, deren Ruf so schlecht ist, dass sie ihn nicht mehr zu verlieren haben, formieren sich vorm „Doping“, einer Bar in Köln, gut 500 Leute, es sind Ultras von der Wilden Horde, den Coloniacs und den Boyz, sie tragen FC-Trikots, rot-weiße Schals, sie schwenken Fahnen, trinken Bier, und dann marschieren sie zum Stadion, zur Südkurve. In ihr Revier. „FC! FC!“, rufen sie.

Der 1. FC Köln spielt an diesem Abend gegen St. Pauli, die Ordner tasten die Ultras am Eingang zur Arena ab, sie gucken in die Kapuzen der Sweatshirts und unter die Kappen. „Sollen die doch. Wenn wir wollen, kriegen wir jede Fackel rein“, sagt ein Ultra. Sein Leben widmet er dem FC, er richtet es nach dem Spielplan.

Sie stehen in den Blöcken S3 und S4, lassen ihre Schals über den Köpfen kreisen, sie singen „Mer jon met Dir wenn et sin muss durch et Füer“, wir geh’n mit dir, wenn es sein muss, durchs Feuer. Die Capos der Wilden Horde, die Wortführer, stehen unten am Zaun, einer trägt ein Megafon, die Capos geben die Lieder und Schlachtrufe vor. Die Ultras haken sich unter und hüpfen. Alle friedlich, alle brav.

In der Halbzeitpause sagt einer: „Viele Polizisten haben den Spaß am Prügeln ja schon im Blick. Und der Lange hat ganz liberal getan am Anfang, aber jetzt ist er einer wie alle anderen.“

Polizeioberrat Volker Lange kann die Sätze nicht hören, dafür kann er den Ultras bis aufs Zungenpiercing gucken: Er sitzt in Raum O+2.43, zweite Ebene Osttribüne, vor 13 Monitoren; 48 hochauflösende Kameras filmen, was vor und im Stadion passiert.

Seit zwei Jahren ist Lange für die Sicherheit im Kölner Stadion verantwortlich, er guckt jetzt auf einen der Bildschirme und sieht die Capos der Wilden Horde, die mit dem Rücken zum Spielfeld stehen, den Oberkörper ruckartig vor und zurück beugen und mit den Armen fuchteln. „Die sind pfiffig“, sagt Lange, „die würden nie im Stadion die Hand erheben.“

Einmal ist Lange schon von Ultras der Wilden Horde angegriffen worden, „aber ich bin nicht auf einem Rachefeldzug, ich mache meinen Job“.

Ultras begleiten jeden Verein, sie sind die auffälligste Gruppe unter den Fans, aber auch die umstrittenste. Ultras machen die Stimmung im Stadion, laut und bunt, und nach dem Abpfiff laufen die Spieler in die Kurve und klatschen, dankbar für die Unterstützung.

So sieht das aus, wenn es gut läuft. Ultras sind aber mehr als nur Kulisse, sie verstehen sich als Stachel im Fleisch des modernen Fußballs, als Gegenpol zum Kommerz. Es ist kein Zufall, dass sie Mitte der neunziger Jahre in Deutschland auftauchten, als aus Stadien Arenen wurden, mit Logen und Tiefgarage.

Alle Ultras berufen sich auf ein Manifest, sechs Gebote gibt es, eines lautet: „Ultras sollen mit den Ultras anderer Vereine zusammenarbeiten, um die Ware TV-Fußball unattraktiver zu machen.“ Ein anderes Gebot heißt: „Ultras sollen jeden unnötigen Kontakt oder jede Hilfe durch die Vereine oder die Polizei verweigern.“

Ultras haben ein diffuses Verhältnis zu Gewalt, eine Mehrheit toleriert, dass eine Minderheit zuschlägt. Der Fanforscher Martin Thein sagt, Gewalt stifte in gewissem Umfang auch die Identität der Ultras, und ihr sozialromantischer Glaube, Volkes Stimme zu sein, zeuge von einer Art Naivität.

Anfang März drängten Kölner Chaoten, darunter Ultras, einen Bus mit Mönchengladbach-Fans von der Autobahn, schlugen die Scheiben des Wagens ein und warfen mit Pflastersteinen, die in den Vereinsfarben des FC gestrichen waren. Die Polizei durchsuchte später 21 Wohnungen und das Quartier der Wilden Horde, stellte Sturmhauben sicher, Gaspistolen, Baseballschläger und bengalische Feuer. Am letzten Spieltag der vergangenen Saison, Köln traf zu Hause auf Bayern München, zündeten die Ultras Rauchbomben im Stadion und versuchten, den Platz zu stürmen.

So sieht das aus, wenn es schlecht läuft. Die Ultra-Bewegung steht am Scheideweg. Schaffen es die moderaten Ultras, von den gewaltbereiten Anhängern abzurücken? Oder durchmischen sie sich weiter mit den Schlägern?

Die Wilde Horde, gegründet 1996, hat rund 800 Mitglieder, zehn Prozent sollen zu Gewalt neigen. Ein Oberstaatsanwalt in Köln bezeichnete die Gruppe als mafiös, und der 1. FC Köln hat ihr den Status als Fanclub entzogen. Beim nächsten Zwischenfall wird die Wilde Horde ihren Platz im Stadion wohl räumen müssen. Das könnte der Anfang vom Ende für alle Ultras bedeuten.

Am Tag vor dem Spiel gegen St. Pauli sitzt Stephan Schell in einem Irish Pub am Alten Markt, auf seinen rechten Oberarm ist zentimetergroß das Wort Wilde eintätowiert, auf den linken das Wort Horde. Schell, 32 Jahre alt, breite Schultern und ein Brustkorb wie ein Fass, ist einer der zwei Capos. Neben ihm sitzt der andere, in Turnschuhen und Jogginghose, er heiße Tommy, sagt er.

Die Wilde Horde hat noch nie offen mit Journalisten gesprochen, die Gruppe schottet sich normalerweise ab wie eine Geheimloge. „Von uns erwartet man, dass wir dialogbereit sind und über unsere Fehler nachdenken. Tun das die Verbände oder die Polizei denn auch?“, fragt Schell. Mit dem Club und der Polizei sei kein Gespräch über Stadionverbote möglich. Solange es die Wilde Horde gebe, werde es keinen Kontakt zur Polizei geben.

„Wir haben mit organisierten Straftaten nichts zu tun“, sagt Schell dann und beginnt einen minutenlangen Monolog darüber, wie gefährlich die Zeit in deutschen Stadien vor den Ultras war, als noch die Hooligans regierten. Womit er recht hat.

Schell ist ein guter Rhetoriker, er erklärt, die Wilde Horde sei ein basisdemokratisch geführter Verbund, jede Entscheidung werde in der Gruppe getroffen, und man sammele Spenden für Jugendheime und Obdachlosenhäuser.

Er sitzt mittlerweile im Schneidersitz auf dem Stuhl, er macht in seiner Freizeit Yoga, interessiert sich für spirituelle Lebensformen. Und sagt: „Sich von Gewalt zu distanzieren ist Heuchelei.“ Zu oft komme es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei oder anderen Ultra-Gruppen.

Beim letzten Fankongress, im Januar in Berlin, diskutierten mehrere Ultra-Gruppen unter Ausschluss der Öffentlichkeit darüber, ob körperliche und seelische Gewalt zum Fußball gehören sollte. Sie konnten sich nicht einigen.

Die Wilde Horde vertritt in der Frage folgende Position: „Wir gehen selbstbewusst durchs Leben, sind aber nicht zwanghaft auf der Suche nach neuen Feinden“, sagt Tommy. Man wolle Gewalt nicht provozieren, könne aber einzelne Mitglieder nicht immer davon abhalten.

Schell sagt, niemand aus der aktiven Fanszene habe Kevin Pezzoni bedroht, jenen Spieler, der vor gut drei Wochen den Verein verließ, weil er sich von den Fans terrorisiert fühlte. Man habe dessen Spielweise nicht gemocht, „wir hätten ihm aber nie etwas angetan“.

Dann müssen die beiden los, sie wollen noch Flyer für das Spiel vorbereiten.

Die eigene Wahrnehmung der Wilden Horde und die Betrachtung von außen liegen weit auseinander. Schell und Tommy nervt es, dass die Ultras für alles verantwortlich gemacht werden und unter Generalverdacht stehen.

Zahlreiche Versuche waren nötig, bis sich ein Spieler, der in der vergangenen Saison noch für Köln auf dem Platz stand, bereit erklärte, über die Ultras zu reden. Er möchte seinen Namen nicht publik machen, als Treffpunkt schlägt er ein Bäckerei-Café vor, morgens um kurz vor zehn. Er erzählt, wie 200 Ultras nach der Niederlage Ende März in Augsburg am Geißbockheim aus den Büschen sprangen und den Mannschaftsbus umzingelten. Harmlos sei das noch gewesen. „Die wollten nur, dass wir uns beleidigen lassen.“

Dann die nächste Auswärtspleite in Mainz, die Ultras belagerten wieder das Clubhaus, sie warteten auch vor dem Sta dion in Müngersdorf auf die Rückkehr ihrer Versager. Die Spieler stiegen vorsichtshalber an einem Hotel in der Innenstadt aus dem Bus, aber auch dort kamen die Ultras hin. Wieder Flüche, Schmähungen, Wut. „Sowas ist Normalität inzwischen, wenn ein Verein am Abgrund steht. Die Fans suchen einen Schuldigen.“

Dass Problem in Köln sei aber, sagt er, dass die Ultras nur Extreme kennen würden. „Lukas Podolski war für die heiliger als der Dom.“ In dem Maße, in dem sie Podolski vergöttert hätten, hätten sie andere Spieler beleidigt.

Nach dem Spiel gegen München war Köln abgestiegen und die Angst vor den Ultras so groß, dass der Verteidiger Christian Eichner das Stadion im Auto seiner Eltern verließ: Er lag im Kofferraum. Unter den Spielern machte das Gerücht die Runde, die Ultras hätten eine Liste mit ihren Adressen. Der anonyme Spieler sagt: „Ich saß zu Hause mit meiner Freundin und habe überlegt, was ich tun soll.“ Erst habe er noch an Abhauen gedacht, sich aber dann doch entschlossen zu bleiben. „Ich sagte mir: Sollen sie doch kommen. Sollen sie doch klingeln. Ich mache die Tür auf. Sollen sie mir halt eins auf die Fresse hauen.“ Er war es leid. „Ich weiß, dass man dagegen schwer etwas machen kann. Was willst du auch tun?“

Er habe im Prinzip nichts gegen Ultras, „man liegt sich nach einem Sieg ja auch mit ihnen in den Armen. Und, ganz ehrlich: Die Gesänge und die Leuchtraketen – ich finde das geil. Besser auf alle Fälle als so ein Theaterpublikum wie in Hoffenheim oder Wolfsburg.“

Christian Eichner kommt gerade vom Training, auf seiner Stirn kleben feuchte Haare. Man würde mit ihm gern über die Vorfälle in der abgelaufenen Saison reden, aber er winkt ab. Er sagt, ein neues Kapitel habe begonnen, nur soviel: „Ich glaube nicht, dass die einem Spieler der eigenen Mannschaft eine reinhauen.“

Im Moment sei das Verhältnis zu den Ultras gut, sagt Eichner noch, sie würden die Mannschaft unterstützen, weil sie sähen, dass jeder kämpfe, sich reinhänge.

An einem Dienstag haben die Ultras der Coloniacs zu einer Infoveranstaltung eingeladen, es geht um das Thema „Fanrechte“, etwa 70 Leute sind in den Gereonswall gekommen, ins Kölner Fanprojekt, ein sozialpädagogisches Zentrum für Fans des FC. Mehr Männer als Frauen sitzen auf Sofas, Stühlen, Tischen, sie sind jung, geschätzt zwischen 16 und 30, Raspelhaarige sind dabei, aber auch Rastalocken und Seitenscheitel. An der Wand hängen zwei Trikots des FC mit den Autogrammen der Spieler, hinten in der Ecke steht ein Kickerautomat, und vorne am Pult ein Anwalt. „Ich gucke in viele bekannte Gesichter“, sagt er zu Beginn. „Vielleicht, weil hier viele Straftäter im Raum sind. Vielleicht, weil ich oft in den einschlägigen Kneipen rumtorkele.“

Ein Fan möchte wissen, ob er zur Polizei muss, wenn er eine Vorladung hat, ein anderer, wann man wieder aus der Datei „Gewalttäter Sport“ gelöscht wird. „Fünf Jahre nach dem letzten Eintrag“, sagt der Anwalt.

Gibt es Fristen in einem Ermittlungsverfahren? „Nein!“

Darf ich ein T-Shirt mit der Aufschrift „ACAB“ tragen, der Abkürzung für „All Cops Are Bastards“? „Wegen so etwas gibt’s kein Stadionverbot.“

Zwei Stunden lang Fragen und Antworten, der Ton ist sachlich, wie in einem juristischen Proseminar.

Als die Ultras ihre Taschen packen, sagt der Anwalt, es gebe keinen öffentlichen Bereich, der sicherer sei als Fußballstadien. „Ich weiß nicht, ob die Ultras wirklich Spatzen sind, aber es wird definitiv mit der Kanone auf sie geschossen.“ Eine ziemlich selektive Wahrnehmung.

Alle paar Monate treffen sich die Anführer der Ultra-Gruppen mit den Leuten vom Fanprojekt, aber die können auch nicht mehr tun, als Denkanstöße zu geben. Was sie versuchen: Sie wollen die jungen Ultras beeinflussen, die Neulinge, die noch formbar sind. Sie haben mit dem Nachwuchs der Ultras die KZ-Gedenkstätte Buchenwald besucht, sie waren mit ihnen im NS-Dokumentationszentrum, sie wollen ihr Vertrauen erlangen und ihren Umgang mit Gewalt ändern. Messen lässt sich der Erfolg nicht.

In der Geschäftsstelle des FC sitzen Rainer Mendel, Fanbeauftragter seit 1989, und Thomas Schönig, Richter am Amtsgericht Geilenkirchen. Die beiden arbeiten für den Club seit Ende August mit Wissenschaftlern der Universität Hannover zusammen, um die Fronten zwischen Ultras, Polizei und Club aufzubrechen.

Schönig, ein kleiner, fröhlicher Mann mit Brille, sagt: „Wir brauchen Hilfe, um die Ultras verstehen zu können: Was sind das für Leute? Was passiert da? Was treibt die an? Warum sind die so? Und die Ultras brauchen auch Hilfe, damit sie verstehen, was ihr Tun bewirkt.“ Er lese gerade viel Fachliteratur zum Thema. Mendel nickt.

Sie sind ahnungslos beim Verein, weil sie die Befindlichkeiten der Ultras zu lange nicht ernst genommen haben. Unter dem alten Präsidenten, unter Wolfgang Overath, der im November 2011 zurücktrat, hat es in sieben Jahren zwei Treffen mit den Ultras gegeben. Zwei. Es gibt viel nachzuholen.

Schönig sagt, man brauche keine Task-Force, die Fanbrände lösche, es gehe darum, gegenseitiges Vertrauen herzustellen. Mendel und er haben mit Soziologen und Politologen gesprochen, sie haben auch schon ein paar mal mit Vertretern der Ultras und anderer Fanclubs zusammengesessen, mit dabei war Wolfgang Bosbach, der CDU-Bundestagsabgeordnete. Bosbach hat die Aufgabe, den Ultras zu erklären, wie die Politiker sie so sehen. In Mendels Worten: „Warum sind die auf dem Baum? Warum denken die darüber nach, Stehplätze zu verbieten?“

Mendel und Schönig wollen nicht erzählen, wie die Sitzungen gelaufen sind, das können sie auch nicht, weil sie wissen, dass die Ultras das Projekt sofort platzen ließen.

Das Verhältnis zwischen Verein und den Ultras zu verbessern, Vorbehalte auszuräumen, die Ultras zu integrieren, das sei eine langwierige Angelegenheit, sagt Schönig, „das macht man nicht mal eben bei fünf Bier und einer Bratwurst“. Mendel nickt wieder.

Mit der Werbebande am Trainingsplatz, auf der eines Morgens im April 2011 stand „Wenn ihr absteigt, schlagen wir euch tot“, hätten die Ultras nichts zu tun, sagt Mendel, es sei auch nicht so, dass die Gewalt der Ultras zugenommen habe. Nur die Qualität habe sich verändert. Daher könne auch jetzt keine Rede sein vom Kuschelkurs. „Es bleibt dabei: Straftaten dulden wir nicht. Decken wir nicht. Zeigen wir selbst an.“

Es wird noch dauern, bis auch ein Polizist an den Gesprächen zwischen den Wissenschaftlern und Ultras teilnimmt, „das ist erst die nächste Stufe“, sagt Mendel. „Wir müssen da sensibel vorgehen.“

Im Büro von Volker Lange, Leiter der Polizeiinspektion Köln-West, liegt ein „Kicker“ auf dem Tisch, daneben das Buch „Ultras im Abseits?“. Lange ist 51, er hat einen mächtigen Bauch und redet gern, wie ihm der Schnabel gewachsen ist. Seit 34 Jahren ist er Polizist, er war beim Castor-Transport in Gorleben und zum 1. Mai in Berlin. Lange ist leidenschaftlicher Fußballfan, sein erstes Derby hat er 1977 gesehen, in England, Sunderland gegen Newcastle.

Als er sein Amt antrat, hat er alle Capos angeschrieben: Ob man sich mal treffen könne, er würde sich gern vorstellen. Die Ultras wollten nicht. „Ich bin penetrant kommunikativ. Aber die Hand, die man reicht, kann auch zur Faust werden“, sagt Lange. „Es ist ganz einfach: keine Straftaten – kein Problem.“

Vier szenekundige Beamte, die die Fans beobachten, sind für ihn im Einsatz. „Hooligans sind mir lieber als Ultras“, sagt Lange, „Hooligans haben Respekt. Ultras nicht. Die labern nicht mit Bullen.“

Neben Lange sitzt sein Stellvertreter, Ralf Remmert. Als Ultras der Wilden Horde im Februar 2011 auf einem Parkplatz hinter dem Stadion auf die zwei losgingen, bekam Lange einen Schlag in den Nacken, Remmert brachten sie zu Fall. „Und dann sind sie auf ihm rumgesprungen, als wollten sie ein Feuer austreten“, sagt Lange. Remmert ergänzt: „Ich dachte, mir geht es wie Daniel Nivel.“ Nivel ist ein französischer Polizist, den deutsche Hooligans bei der WM 1998 in Lens fast zu Tode geprügelt hatten.

Das Kölner Amtsgericht sprach im Juli zwei Angeklagte der Wilden Horde frei. „Ich konnte nicht sagen, welcher Fuß zu wem gehört“, sagt Remmert. „Der Rechtsstaat hat gesiegt. Ich kann da gut mit umgehen.“

Lange holt ein Foto aus der Schublade, es zeigt Lukas Podolski, er steht am Zaun der Südkurve und jubelt mit Ultras. „Der Mann links: geboren 1987, Körperverletzung, Stadionverbot, Gewalttäter Sport. Der Mann rechts: geboren 1989, Körperverletzung, Widerstand gegen die Polizei, Gewalttäter Sport.“

Podolski ist als Sympathisant der Wilden Horde bekannt, er hat mit einer Kapitänsbinde gespielt, die ihm die Ultras überreichten, und er hat ihre Fahne geschwenkt auf dem Platz.

Lange zeigt nun ein Video auf dem Laptop, es sind Bilder einer Stadionkamera in Gelsenkirchen, 13. August 2011, 7.03 Uhr, „die Sache mit dem Nudelwasser“, sagt Lange. Zu sehen ist, wie ein Ultra in einen Bierbecher pinkelt und den Capo fragt, wo er den Becher hinwerfen soll. Er trifft eine Frau im Nebenblock.

Lange sagt, vor dem Bayern-Spiel im Mai habe er erfahren, die Polizei müsse mit einem Platzsturm rechnen. Er habe dann ausrichten lassen, er werde seine Leute an der 16-Meter-Linie aufstellen. „Und wer bis dahin kommt, der fällt. Das ist wie bei der Kinder- und Hundeerziehung: Man muss Grenzen aufzeigen.“

Damals gab es im Stadion Szenenapplaus für die Polizei und Sprechchöre aus dem Oberrang, „nie mehr Wilde Horde“. Lange sagt: „Dieser Aufstand der Anständigen hat die Wilde Horde ins Mark getroffen, das war ein Wirkungstreffer.“

Er klingt glaubwürdig, wenn er sagt, er wolle den Ultras nichts Böses, er schätze die Choreografie der Masse und sei für den Erhalt von Stehplätzen. Es ist eher so, dass er an der mangelnden Einsicht verzweifelt. Und an der Tatsache, dass Ultras Solidarität über Vernunft stellen.

Es habe sich mal eine Mutter bei ihm gemeldet, deren Sohn bei den Ultras sei, erzählt Lange. Sie wollte wissen, was sie machen könne. Lange sagte, sie solle ihrem Jungen ausrichten, bei Randale langsam bis zehn zu zählen und zu überlegen, ob es eine gute Idee sei, mit der Truppe mitzurennen. „Der Sohn hat geantwortet: Mama, wenn ich bis zehn zähle, sind die anderen schon 30 Meter weiter. Schwarmverhalten, ganz typisch.“ Lange erzählt die Geschichte wie einen Witz, findet sie aber nicht lustig, sondern traurig.

Lange sagt, an ihm solle ein Frieden mit den Ultras nicht scheitern. Aber es geht nicht zusammen. Polizei und Ultras, das ist wie Wasser und Öl.

Drei Mitglieder der Coloniacs sitzen im „Früh em Veedel“, trinken Kölsch und erzählen, die Polizei lasse sie manchmal nicht auf die Toilette gehen, sie müssten wild pinkeln und dafür dann Strafe zahlen. „Willkür“, sagt einer. Die Ultras bleiben namenlos, „weil wir noch einen Beruf haben wollen“.

Die Coloniacs sind eine Abspaltung der Wilden Horde und gelten als politisch links, 65 Mitglieder, Freunde der Pyrotechnik, kaum Körperverletzung.

Sie legen Wert darauf, nicht als die netten Ultras beschrieben zu werden, nur weil sie Amnesty International unterstützen und meinen, dass „Schwuchtel“ kein legitimes Schimpfwort ist. Sie sind gegen Vandalismus in Zügen, sprühen aber gern Graffiti. Auch die Coloniacs distanzieren sich nicht nachdrücklich von Gewalt, „Gewalt ist in Teilen ein legitimes Mittel, als Drohung“. Etwa wenn die Ordner ihnen nicht gestatten würden, Fahnen und Banner im Stadion zu benutzen.

Die Initiative des FC halten sie für einen Schritt in die richtige Richtung, „man soll nicht über uns reden, sondern mit uns“. Es sei anstrengend, als Ultra immer nur auf den Aspekt „Gewalt“ reduziert zu werden. „Es ist fünf vor zwölf. Wir müssen es schaffen, dass wieder über die Ästhetik in der Kurve gesprochen wird, über die Freude. Das martialische Gehabe ist ein Problem. Wir treten nicht als schwarzer Block auf, wir kleiden uns farbenfroh. Ultra, das steht auch für Kreativität, für Entfaltung und Weltoffenheit.“

Die Ultra-Bewegung kenne keine sozialen Zwänge, wo sonst würde die 17-jährige Tochter einer Akademikerfamilie etwas mit einem zahnlosen Sozialhilfeempfänger unternehmen? „Nicht auf dem Oktoberfest, und da knallt es zehnmal so oft wie beim Fußball.“

Die Bilanz der Polizei nach dem Spiel des FC gegen St. Pauli: vier Strafanzeigen, Verstoß gegen das Waffengesetz, unberechtigter Zugang, Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz, gefährliche Körperverletzung. Dann gingen noch zehn Kölner gegen zwei Hamburger zu Werke, die in einem Auto saßen, Sachbeschädigung, Verletzungen, Raub. Ultras waren wohl nicht beteiligt.

„Alles vergleichsweise ruhig“, sagt Volker Lange.

Die Stimmung im Stadion war fantastisch, 90 Minuten Gesang. Trotz null-null.

von RAFAEL BUSCHMANN, MAIK GROSSEKATHÖFER, CHRISTOPH RUF